Sufis – Meister des Augenblicks

Von Bruno Martin

 

Ein Sucher fragte: "Wie kann ein unbedeutender Gedanke zum Hindernis für einen großen werden?" Der Sufi-Weise antwortete: "Sehe dir die Steine dort an. Diese Steine versperren dir nicht die Sicht, solange sie sich in einer bestimmten Entfernung befinden. Wenn du dir aber einen der Steine direkt vor ein Auge hältst, wird er dir riesig vorkommen und die Sicht versperren."

Ähnlich ist es mit der Lehre, die im Westen als Sufismus bezeichnet wird. Wenn wir nur die großen Steine der Tradition innerhalb des Islam vor Augen sehen, sehen wir den "Sufismus" gewöhnlich als "islamische Mystik". Historisch hat sich das Sufitum im Laufe der Jahrhunderte tatsächlich im Islam verbreitet und auch vieles zu seiner Verbreitung beigetragen. Erstarrte Rituale, die Einbettung in die islamische Orthodoxie und Strenggläubigkeit ließ den ursprünglichen Weg der großen Weisen und Mystiker, die Menschen zur eigenen Erkenntnis des Göttlichen zu führen, regelrecht mit Felsbrocken zustellen. Aus diesem Grunde sagte der Zen-Meister Basho: "Suche nicht die Lehre der Alten, suche das, was sie selbst gesucht haben." Auch wenn ekstatische Elemente in den unterschiedlichen Derwischorden weiterhin vorhanden sind, ist die Wirklichkeit dieser Gruppierungen mehr oder weniger von orthodoxen islamischen Glaubensformen bestimmt.

Das Entstehen des Sufitums geht weiter in der Geschichte zurück als der Islam; einige Forscher sehen gnostisches und neoplatonisches Gedankengut, sogar buddhistische oder indisch-vedantische Ursprünge. Doch wahrscheinlich ist die Grundlage der sufischen Lehre einige tausend Jahre alt und reicht bis in den Schamanismus. So schreibt J.G. Bennett, der die Geschichte der "Meister der Weisheit" erforschte, die wesentlich zur Entwicklung des Sufismus zur Zeit der Erorberung vieler asiatischer Gebiete durch Dschingis Khan beitrugen: "Die Schamanen waren hingebungsvolle Menschen, die sich einer strengen Ausbildung unterzogen, um ihre Fähigkeit zur Antwort auf die Führung des Geistes zu erhöhen. Sie bedienten sich geistiger Übungen, des Fastens und der Atemkontrolle. Es ist sogar möglich, dass die Zurückhaltung des Atems, wie es von den Meistern der Weisheit praktiziert wurde, von den Schamanen kam und nicht aus Indien."

 

Was sind Sufis?

Einer der Meister, die mit der Sufis-Tradition in Verbindung gebracht werden, G.I. Gurdjieff (1866-1949), gibt einige Hinweise über esoterische Schulen im mittleren Osten, darunter ein "Sarmoun-Kloster", wo er angeblich die geheime Überlieferung kennenlernte. Sarmoun heißt in einer Lesart „Hüter der Tradition“, in einer anderen Übersetzung heißt sar auch „Kopf“. Das ist ein Hinweis darauf, dass hier der Kern der Sufi-Überlieferung liegen soll. Die bedeutendsten Sufis, z.B. Bahauddin Naqshband, Hadschi Bektasch, Faruddin Attar, Abdul Halik Gudschduwani, Ahmed Yesewi und viele andere, von denen alle nachfolgenden Meister gelernt haben und mit deren Namen viele Orden benannt sind, schöpften ihr Wissen aus dieser Quelle.

Die „Hüter der Tradition“ sind die Weisen, die Beauftragten und Gesandten der höchsten Wirklichkeit. Deshalb wird in der „Kette der Überlieferung“ immer der Prophet Mohammed als Ursprung angerufen. Aber damit ist nicht die Person Mohammed gemeint, sondern der  „kosmische“ Mohammed, die Manifestation göttlicher Kraft, und da Allah Eins oder die Einheit ist, ist auch das Wissen unbegrenzt.

Eine andere Übersetzung für „Sarmoun“ ist auch „Bienen“. ein Symbol dafür, dass die kreativen "spirituellen Köpfe" den "Nektar" aus vielen Quellen schöpfen. Die  Bienen befruchten auch die Blumen und Bäume, deren Früchte wir dann ernten. Alle großen Meister wissen, dass das universale Wissen um die Gesetze des Universums nicht nur einer spirituellen Richtung oder Lehre vorbehalten war und ist.

Hassan Shushud, ein Sufi-Meister in der Tradition der "Meister der Weisheit", der Quelle des heutigen Sufismus, unterscheidet in seinem Buch The Masters of Wisdom of Central Asia zwischen zwei Strömen im Sufismus:

  • Die nördlichen Sufis, die hauptsächlichen in Turkestan, Khorasan, Iran, Aserbeidschan, Afghanistan gewirkt haben. Die bekanntesten Sufirichtungen ging von den ersten Hadschegan ("Meister der Weisheit") aus, die Naqschabandis, Yesewis und Bektaschis.
  • Die südlichen Sufis wirkten hauptsächlich in Syrien, Ägypten Irak und Arabien. Das Ziel der südlichen Sufis erschöpft sich zumeist in Visionen der Einheit mit Gott, der Unio mystica; man kann diese Tendenz als „Trunkenheit“ beschreiben, als Verschmelzen in höchster Seligkeit.

Die nördlichen Sufis gehören zu den „nüchternen“ Mystiker, ähnlich dem Meister Ekkehart der christlichen Mystik. Sie sind die „geistigen Wissenschaftler“ und entwickelten ein Schulungssystem, das auf dem Verstehen der menschlichen Psychologie und den kosmischen Gesetzen beruht. Ihr Ziel ist die absolute Befreiung, nicht nur das Aufgehen in der göttlichen Einheit, sondern im "absoluten Nichtsein", jenseits aller Attribute, der Quelle. Es ist das Shunyata der Mahayana-Buddhisten, jenseits von Nirwana und Samsara.

Da dies ein Gedanke ist, der für die meisten Menschen auch jenseits jeden Verständnisses liegt, ist es nicht verwunderlich, dass viele Vertreter des Sufismus häufig in Konflikt mit der herrschenden Orthodoxie standen. Auch wenn bedeutende Sufi-Meister die Religion nicht abgelehnt haben, haben sie immer deutlich gemacht, dass eine authentische Überlieferung und Entwicklung der Lehre der Sufis zwar in den Formen und Äußerungen der jeweiligen Kultur operiert, aber völlig unabhängig davon ist. Dadurch ist die echte Sufilehre, der es einzig und allein um die höchste Befreiung geht, auch nicht erstarrt, sondern hat immer die äußeren gesellschaftlichen Bedingungen in die Methoden des inneren Fortschritts eingezogen.

 

Die Praxis

Der Sufismus lebt hauptsächlich durch Aktion. Der Kern der Methode heißt Schule des Augenblicks, was besagt, dass jede  Aktion, jede Schulung, aus dem Geist des Augenblicks heraus entsteht und selten mit vorgegebenen oder feststehenden Formen arbeitet. Ein Sufi wurde gefragt: „Warum tolerieren Sie unbesonnene Fragen?“ Er lächelte und sagte: „Um für uns alle die Vorteile zu haben, solche Fragen kennenzulernen, wie Sie gerade eine gestellt haben.“

Die wesentliche Arbeit geschieht bei den Sufis - wie bei den damit vergleichbaren Zen-Meistern - innerhalb der normalen Lebensumstände; ein zeitweiser Rückzug in eine intensive Lehrsituation der Gruppe dient vor allen Dingen der schnellen, inneren Entwicklung. Der Sufi mag dem Schüler bestimmte Aufträge oder Aufgaben geben, die er gut erfüllen muss, oder er lernt durch das Handeln des Lehrers. Auch wenn bestimmte Handlungen oft widersprüchlich oder paradox erscheinen, bei einem "Meister des Augenblicks" geschieht nichts ohne Grund.

Hodscha Faghnawi lehrte zum ersten Mal die "Übung des gegenwärtigen Augenblicks" (sikr-i alaniyya). Auf die Frage, warum er eine Neuerung einführe, sagte er: "Die Menschen leben in einem Traum, dies soll sie aufwecken." Die "Schule des Augenblicks" hat keine formale Methode und kein festes Lehrgebäude. Wenn solche Sufi-Schulen eine gewisse äußere Struktur benutzen, bedeutet das nicht, dass die praktische Arbeit Routine ist; das scheint nur für einen Außenstehenden so zu sein.

Um die Bedeutung der "Meister des Augenblicks" richtig zu verstehen, möchte ich kurz die wesentlichen Aspekte der Schulung zusammenfassen, wie sie von Abd al-Khaliq Gudschduwani im 11. Jahrhundert formuliert wurden und heute noch gelehrt werden:

  • Atme jeden Augenblick bewusst. Lass deine Aufmerksamkeit keinen einzigen Atemzug abschweifen. Erinnere dich immer und in allen Situationen an dein Gegenwärtigsein.

Diese Anleitungen für die Atemkontrolle wurden ergänzt durch den dhikr (sufische Mantras). Im allgemeinen gibt es mehrere Arten von dhikr, das "Gedenken mit der Zunge", bei die verschiedenen Gebetsformeln oder Gottesnamen laut und rhythmisch gesungen werden, und das "Gedenken mit dem Herzen", der leise dhikr, der vor allem bei den Naqschibandi praktiziert wird. Der laute dhikr spielt eine wichtige Rolle im gemeinschaftlichen Ritual (hadra) der Derwische ("Arme"). Eine weitere Form ist habs-i dam, d.h. das Anhalten des Atems über eine längere Zeit nach einer bestimmten Anzahl von Atemstößen (mit oder ohne Worte), eine Art des yogischen pranayama.

  • Halte dir deine Absicht bei jedem deiner Schritte immer vor Augen. Dein Ziel ist die Befreiung, und das solltest du nie vergessen. (Diese Übung ist vergleichbar mit der buddhistischen Vipassana-Meditation.)
  • Erinnere dich, dass dich deine Reise aus der Welt der Erscheinungen in deine Heimat der Welt der Wirklichkeit führen soll.
  • Bleibe bei all Deiner äußeren Aktivität innerlich frei. Lerne, dich mit nichts und niemanden zu identifizieren.
  • Erinnere dich an deinen Freund, d.h. Allah. Lass das Gebet der Zunge, das deines Herzens sein. Hiermit ist besonders das Wazifa gemeint, vergleichbar mit dem ostchristlichen Herzensgebet. Hierzu zählt auch die Naqschibandi-Technik der Konzentration des dhikr auf die lataif, die feinstofflichen Zentren.
  • Kehre zur Einheit Gottes zurück. Es gibt kein anderes Ziel als die Realität.
  • Bleibe wachsam. Kämpfe mit allen fremden Gedanken. Halte dir im Geist, was du tust, innerlich wie äußerlich. Werde dir gewahr, was deine Aufmerksamkeit festhält. Die Übung des Selbst-Innewerdens, die G. I. Gurdjieff "Selbst-Erinnerung" genannt hat.
  • Sammlung. Sei dir andauernd der Qualität der göttlichen Gegenwart gewahr. Der "Verlust des Selbst", des Ego, macht es möglich, an einer größeren Wirklichkeit teilzuhaben.

Der Alltag ist das eigentliche Übungsfeld der Sufis. Alle großen Meister – mit wenigen Ausnahmen – benutzen die alltäglichen Umstände für die beispielhafte Ausbildung der Schüler. Innere Übungen, allein und in der Gruppe, dienen zusätzlich zur Stärkung und Transformation der inneren Energie, ohne die kein Wachstum möglich ist. Die wesentliche Arbeit geschieht jedoch innerhalb der normalen Lebensumstände. Der Sufi mag dem Schüler bestimmte Aufträge oder Aufgaben geben, die er gut erfüllen muss, oder er lernt durch das Handeln des Lehrers. Abdul Hassan sagte: "Über die Dinge dieser Welt nachzugrübeln, hat nichts mit dem Derwisch-Pfad zu tun. Über die kommende Welt nachzudenken, hat auch nichts damit zu tun. Beides verhält sich zueinander wie Gestern und Morgen. Wie das Heute - etwas Ähnliches, aber doch etwas ganz Eigenes - so ist der Weg."

Auch wenn bestimmte Handlungen oft widersprüchlich oder paradox erscheinen, bei einem „Meister des Augenblicks“ geschieht nichts, ohne paradox zu erscheinen, nichts ohne Grund. Ein Sufi hielt einen Vortrag. Während des Vortrags pausierte er von Zeit zu Zeit und blickte in einen dicken Stapel von Blättern, der vor ihm lag, manchmal wühlte er auch nervös in den Blättern. Ein Zuhörer ging nach dem Vortrag zum Pult und bat den Sufi, ob er diesen Vortrag in seinem Universitätsmagazin veröffentlichen dürfe. Beiläufig blickte er in die Papiere und stellte fest, das diese vollkommen leer waren. „Sie scheinen einen Notizblock zu haben, der gar keine Notizen enthält“, sagte er. „Ach ja?“ antwortete der, „das hat seinen Grund. Ich konnte früher häufig bemerken, das viele Leute das kritisierten, was ich vortrug, weil sie meinten, es sei nicht sorgfältig genug ausgearbeitet, wenn es frei gesprochen wird. Oder sie interessieren sich mehr für die Tatsache, dass man ohne Notizen sprechen kann, und hören auf, dem Vortrag zuzuhören.“

Die „Schule des Augenblicks“ hat keine formale Methode und kein festes Lehrgebäude. Dennoch gibt es Schulen, die eine gewisse äußere Struktur benutzen - zumindest scheint es für einen Außenstehenden so auszusehen. Diese Schulen sind wichtig, weil sie erst die notwendigen Grundlagen im Schüler erwecken, damit er fähig ist, eine höhere Stufe der Erkenntnis zu erreichen. Eine wichtige Voraussetzung für die „fortgeschrittene“ Methode ist die Schule der Aufmerksamkeit. Diese kann nur durch Training und Übung entwickelt werden.

Aufmerksamkeit ist eine Eigenschaft des Willens und wird normalerweise von vielen Dingen angezogen und verbraucht. Wie die Aufmerksamkeit konzentriert werden kann, ist eines der Geheimnisse der Lehre. Eine wichtige Übung ist die Achtsamkeit in jeder Situation. Dafür muss eine ganzheitliche Wahrnehmung entwickelt werden mit dem Ziel, jede Anhaftung an innere und äußere Dinge aufzulösen. Es geht darum zu lernen, "in der Welt, aber nicht von der Welt zu sein". Deshalb rufen bestimmte Lebenssituationen sehr viel Spannungen hervor, weil die Menschen mit ihrer Identifikation an sich und die Dinge konfrontiert werden. Eine absichtlich aufgebaute Spannung durch einen Lehrer kann diese Situation noch verschärfen, damit der Schüler seine Identifikation deutlich wahrnimmt und so auflösen kann.

Viele der "Meister des Augenblicks" nutzen die Lehrmethode des "Tadels", malam. Bei diesem "pädagogischen" Prinzip geht es darum, dem Schüler deutlich seine Schwächen und seine Egozentriertheit vor Augen zu führen. Diese Methode verstärkt beim Schüler das Gefühl der eigenen Nichtigkeit - die keiner gerne sehen will. Jeder und jede, die auf einen geistigen Weg gehen, fühlen sich zuerst einmal "auserwählt" und "besonders". Das barsche, manchmal abweisende und rüde Verhalten eines Lehrers, der "Tadel" (malama, türk. melem), das es auch in anderen Traditionen wie des Zen gibt, sticht in die Wunde der eingebildeten Persönlichkeit der Schülerin oder des Schülers. Das äußere Verhalten des Meisters ist natürlich getragen von einem intensiven Mitgefühl und selbstloser Liebe zum betroffenen Menschen. Es ist eine Haltung des Dienstes am und für den Menschen. Diese "Methode" dient vor allem dazu, den inneren Kampf gegen Eitelkeit, Selbstliebe und Selbstgefälligkeit zu stärken.

Das Prinzip des Malam hat in gewisser Weise auch G. I. Gurdjieff gelebt und gelehrt, der mehrfach betonte, dass das "absichtliche Leiden" (wie er es bezeichnete) ein direkter Weg zur Aufgabe jeder Identifikation mit der weltlichen "Persönlichkeit" sei und der wirksamste Weg zur Nicht-Anhaftung an existenzielle Bedingungen und soziale Zwänge ist. Sein Verhalten wurde häufig als "nicht-konform" und unkonventionell geschildert. Damit schreckte er Menschen ab, die nicht bereit oder fähig waren, sich von gesellschaftlichen Konventionen zu lösen. Dabei ist diese Nichtkonformität kein Selbstzweck. Sie dient dazu, die unbewussten Verhaftungen zu erkennen und seinen eigenen, inneren Weg zu finden - auch im Rahmen des "normalen" Lebens.

Ein weiteres Element ist die gezielte Unterbrechung durch den Lehrer, um den Schüler immer wachsam zu halten. Eine wirkungsvolle Methode dabei ist die "Stopp-Übung". Wenn der Lehrer bzw. die Lehrerin das Wort "Stopp" ruft, müssen die Schüler wie eingefroren erstarren, ganz gleich welche Tätigkeit sie gerade ausführen. Eine weitere wichtige Methode ist die Herstellung von Situationen, die den Schüler herausfordern, selbst zu denken und die Situation als Ganzes wahrzunehmen. Gerade hier im Westen, wo die meisten Menschen darauf trainiert sind, dass alles gut organisiert ist und alles durchgeplant ist, wird ein Lehrer immer wieder Situationen entstehen lassen, in denen nicht alles so "geschmiert" abläuft, wie viele es erwarten oder gerne hätten.

So kann es vorkommen, dass ein Lehrer eine Übung anweist, diese aber nicht klar und vielleicht sogar widersprüchlich formuliert. Die Schüler denken dann, der Mann weiß wohl nicht genau, was er will. Doch das Gegenteil ist der Fall: Es soll eine Wachheit geweckt werden, selbst dahinter zu kommen, was tatsächlich im Augenblick geschieht. Wenn der Schüler anfängt, innerlich am Lehrer zu nörgeln, gerät er genau in die Identifikation mit den eigenen Vorstellungen davon, was "eigentlich richtig sein sollte", bis er bemerkt, dass die "Welt auf andere Weise" funktioniert.

Eine weitere Wachsamkeitschulung besteht in Anforderungen, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, ohne verwirrt zu werden. Letzteres ist sehr wichtig, weil fortgeschrittenen Trainingsmethoden gerade diese vielseitige Aufmerksamkeit verlangen. In sich Selbst zentriert zu bleiben und dennoch mit Aufmerksamkeit der äußeren Umwelt gewahr zu sein ist eine bedeutende Praxis der „Schule des Augenblicks“.

Um in die "Welt des Bewusstseins" aufzuwachen, müssen wir zuerst erkennen, dass wir "schlafen". Daher ist ein Training der Wahrnehmung für "spirituelle" Impulse außerordentlich wichtig, denn diese sind für das "normale" menschliche Denken und Empfinden zu schnell. Wir können sie erst im Nachhinein wahrnehmen. Das beste Beispiel ist die Wirkung eines kreativen Impulses. Wir haben einen Einfall, der sozusagen aus dem Nichts kommt, der nicht von äußeren Faktoren bedingt ist oder jedenfalls keine unmittelbare Reaktion auf einen äußeren Anlass darstellt. Selten sind wir jedoch in der Lage, diesen Einfall im Augenblick seines Entstehens zu sehen, vielleicht noch nicht einmal hinterher. Er fließt einfach durch uns hindurch, ohne Spuren zu hinterlassen. Dasselbe gilt für die Intuition. Wann folgen Sie einer Intuition tatsächlich?

Manche  spirituelle Richtungen, die heute verbreitet sind, sprechen davon, dass man einfach „im kosmischen Strom fließen“ soll. Das mag zwar ein sehr angenehmes Gefühl sein, geht aber ganz am Kern der Sache vorbei. Es geht vielmehr darum, mit der natürlichen Bewegung des Geistes in wacher Aufmerksamkeit verbunden zu sein. Denn die ungebundene Sensitivität sollte nicht einfach nur erlebt, sondern konzentriert werden können, damit die Aufmerksamkeit überhaupt eine Basis in uns hat. Ohne die Konzentration der natürlichen Lebensenergie, ohne einen "Energiekörper", sind wir allen möglichen inneren und Impulsen ausgeliefert, die uns von unserer Arbeit ablenken. Wir fühlen uns zwar frei – doch wir sind es nicht; Freiheit ist eine Eigenschaft des Willens und der Aufmerksamkeit. „Die Welt des Willens darf natürlich nicht als rigide Struktur verstanden werden, sie ist gerade das Gegenteil, sonst wäre es auch keine Welt der Freiheit.“ (J.G. Bennett) Der kreative, geistige Impuls benötigt eine innere Konzentration, damit der nicht einfach "hindurchfließt". Das ist mit "Sammlung" gemeint.

 

Was ist der Augenblick?

Wie bereits am Beispiel der Aufmerksamkeitsschulung gesehen werden konnte, ist die „Meisterung des Augenblicks“ keine willkürliche Angelegenheit, sondern basiert auf einer gewissen Disziplin des Schülers. Auch eine struktruierte Methode kann viele Augenblicke schaffen, die gemeistert sein wollen. Die Herausforderung ist permanent. Diese Einstimmung in die Situation, in das  „größere Ganze“, ist Teil des Trainings für den Augenblick. Jeder Moment ist der einzige, den wir haben, nicht die Vergangenheit oder die Zukunft. Doch die Einheit eines gegenwärtigen Augenblicks liegt nicht in der verschwindenden Sekunde eines Zeitablaufs, sondern im Heraustreten in eine andere Zeitdimension, den größeren gegenwärtigen Augenblick. Hier wird eine Sekunde zu Unendlichkeit.

Je mehr "inneren Raum" wir schaffen, desto mehr Zeit haben wir. Der innere Raum wird frei durch die Befreiung von vielem psychischen Abfall, den wir mit uns herumschleppen, und durch die bewusste Ausdehnung und Stärkung der inneren Kraft. Der Augenblick kann sich auf diese Weise "erweitern".

Die Meister des Augenblicks arbeiten mit dieser Tatsache, sie haben eine Vision und eine Verbindung mit dem größeren Raum und der größeren Zeit. Deshalb können sie im gegebenen Augenblick in einer Zeitsequenz der normalen Zeit richtige Dinge tun, die von anderen für völlig unsinnig gehalten werden, weil diese nicht sehen können, in welchem Zusammenhang die entsprechende Aktion steht.

Eine "Schule des Augenblicks" ist nicht davon abhängig, irgendwelche Rituale durchzuführen, ein bestimmtes Lehrgebäude aufzustellen oder bestimmte Vorschriften zu geben. Sie schafft intelligente Umstände, die nicht nur dem Schüler eine Möglichkeit zum Wachstum bringen, sondern auch in einer größeren Ordnung eine Rolle spielen. Sie können jedes Material benutzen, das zur Verfügung steht, und seien es Steine, wie in der zitierten Anekdote. Die Meister des Augenblicks sind sich natürlich bewusst, dass jede ihrer Aktionen irgendwann imitiert werden, dass jede Form und Struktur, die sie vorübergehend annehmen, erstarren kann. Deshalb schaffen diese Meister immer neue Formen und neue Situationen, je nach dem was in diesem Augenblick notwendig ist.

Wir können uns nicht darauf verlassen, dass ein "Sufi" immer ein "Sufi" sein wird oder diesen Namen trägt. Vielleicht gibt er sich als Gärtner aus, wie in der Anekdote über Gurdjieff: Dieser arbeitete im Garten, als ein Besucher vorbeikam. "Wo finde ich Herrn Gurdjieff", fragte ihn der Besucher. Der vermeintliche Gärtner beschrieb ihm ganz umständlich einen Weg und bat den Besucher, ihm später mitzuteilen, wo und wie er Gurdjieff gefunden habe. Der Name gilt immer nur für eine bestimmte Manifestation und wird fallengelassen, wenn er seinen Dienst getan hat. Diejenigen, die dann daran festhalten, halten an einer toten Form fest, die wenig lebendige Kraft hat. Das Beharren der Menschen an bestimmten äußeren Formen ist natürliche der Grund, warum manche Formen über Jahrhunderte überleben. Zum Teil ist das auch beabsichtigt, weil wenige in der Lage sind, die Herausforderung der Schule des Augenblicks anzunehmen. Im Zen, einer anderen Schule des Augenblicks, gibt es den Ausspruch: „Triffst Du Buddha unterwegs, dann töte ihn", was besagt, dass es einen feststehenden Buddha, einen nach unserer Vorstellung, nicht gibt.

Wenn heute über Sufismus geschrieben und gesprochen wird, ist meistens die überlieferte Form oder die Form der Anpassung an unseren Geschmack gemeint. Wirkliche Sufis spielen nicht mit im Zirkus der Eitelkeit. Sie mögen uns bekannt sein, Vorträge halten und Bücher schreiben, doch ihre wirkliche Arbeit geschieht im Verborgenen. Selbstverständlich hat jeder eine bestimmte Rolle zu spielen, einen Dienst für die Menschheit zu erfüllen, und dieser wird wahrgenommen. Dennoch wird der Sucher es schwer haben, einen “Sufi“ zu finden.

Ein Schüler lernte seit einigen Monaten bei einem Sufi. Eines Tages sagte er: „Meister, Du bist einer der größten Männer in der Welt und doch verhältnismäßig unbekannt. Ich sehe es als meine Pflicht, herumzureisen und den Leuten von Deiner Größe zu erzählen. Wie kann es nur sein, dass ein so unendlich perfekter Mensch unbekannt bleiben soll?“ Der Meister sagte: „Wenn ich sagen würde, ich sei ein unendlich perfekter Mensch oder jemand dies von mir verbreiten lassen würde, würdest du wissen, dass ich dies nicht bin. Das Gefühl, dass du deinen Lehrer als den größten Menschen auf Erden darstellen musst, ist ein Zeichen deiner eigenen Überheblichkeit.“

Das Ziel unseres Strebens ist jenseits jeder Vorstellung. Auch die Meister des Augenblicks sind gewissen Bedingungen unterworfen, doch sie sind wahrscheinlich eher in der Lage, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Das kosmische Unendliche schafft immer neue Gelegenheiten zur Arbeit, und mischt sich nicht ein. Die Arbeit, das große Werk, fordert uns immer von neuem zur Teilnahme heraus. „Wenn wir uns dem Werk verpflichten, das manchmal der „Geist Gottes“ genannt wird, verpflichten wir uns für immer der Veränderung.“ (J.G. Bennett)

 

Literaturverzeichnis:

Bennett JG (1983): Die Meister der Weisheit. Südergellersen 

Feild R (2003): Schritte in die Freiheit. Zürich 

Frembgen J (1993): Derwische - gelebter Sufismus. Köln (ein umfangreiches, schön bebildertes Werk über alle Sufi- und Derwischrichtungen)

Gurdjieff GI (1997): Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen. München 

Martin B (2004): Zen der plötzlichen Erleuchtung. Havelte

Martin B (2005): Handbuch der spirituellen Wege. München 

Shah I (1983): Die Sufis. Köln 

Shushud H (o.J.): Masters of Wisdom of Central Asia. Ripon