Ketamin-Behandlung bei Depressionen

Von Prof. Dr. Torsten Passie


 

Einleitung

Die Substanz Ketamin wurde erstmals 1962 von der Firma Parke Davis in den USA hergestellt und zwar als ein Derivat der Substanz Phencyclidine (PCP), die seit 1956 als Narkosemittel getestet wurde. PCP war sehr effektiv, hatte aber ungute Nebenwirkungen wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Daher sah man sich nach Alternativen um und synthetisierte Ketamin, das weniger Nebenwirkungen hatte. Im Anschluss an die vorgeschriebenen Tierversuche wurde Ketamin erstmals 1964 am Menschen angewendet und in Studien am Menschen auf Sicherheit und Nutzen geprüft. 1970 genehmigte die amerikanische Medikamenten-Zulassungsbehörde FDA die Anwendung von Ketamin als Medikament.

Ein großer Vorteil von Ketamin gegenüber anderen Narkosemitteln besteht darin,  dass es weder die Atmung noch die Reflexe unterdrückt, die man zum Beispiel benötigt, falls man bewusstlos wird und sich verschluckt. Ketamin galt damals als zukunftsweisend, da man es ohne Operationssaal und Anästhesie-Equipment anwenden kann. Es können also Personen, die verwundet oder verunfallt sind, direkt vor Ort betäubt werden, ohne dass die Vitalfunktionen und Reflexe, beeinträchtigt werden, wie es bei praktisch allen anderen Narkosemitteln der Fall ist.

Tatsächlich kam es seit 1970 zur breiten und globalen Anwendung von Ketamin in der Notfallmedizin und Chirurgie. Seit dne späten 1980er Jahren kam es jedoch auch zu einer ersten missbräuchlichen Verwendung von Ketamin als Rauschmittel. Erst jüngst schlugen Versuche einiger asiatischer Länder fehl, den in Asien verbreiteten Missbrauch von Ketamin als Rauschdroge zu begrenzen, indem man es einem internationalen Verbot zu unterstellen suchte. Die WHO lehnte ein Verbot wiederholt mit dem Hinweis ab, dass durch die resultierenden Einschränkungen zehntausende Menschen sterben würden, da sie in Notfallsituationen außerhalb des Krankenhauses oder in Ländern mit prekären Gesundheitssystemen nicht optimal versorgt werden könnten. Deshalb ist Ketamin weiterhin zugelassen und verschreibungspflichtig, aber unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz.

 

Ketamin in der psychopathologischen Forschung

Ketamin wurde lange Zeit in der experimentellen psychopathologischen Forschung zur Erzeugung psychose-ähnlicher Zustände benutzt. Dadurch hoffte man, dem Ursachengefüge psychotischer Erkrankungen, welches nach wie vor rätselhaft ist, auf die Spur zu kommen. Obgleich diese Forschungen letztlich wenig zielführend waren, wurde festgestellt, dass ketamin-induzierte Zustände große Ähnlichkeit mit den Symptomen der chronischen Schizophrenie aufweisen. Es zeigte sich außerdem, dass Ketamin, trotz seiner ausgeprägten ‚halluzinogenen‘ Wirkungen, kein klassisches Halluzinogen ist, da es eine Trübung des Bewusstseins und massive Gedächtnisstörungen erzeugt. Beides tritt bei den klassischen Halluzinogenen wie etwa LSD oder Meskalin nicht auf. Auch die kognitiven Störungen sind in den meisten Bereichen stärker ausgeprägt als bei klassischen Halluzinogenen.

Ich selbst habe Humanstudien mit Ketamin an der Medizinischen Hochschule Hannover durchgeführt und dabei die Wirkungen auf den Bewusstseinszustand, die Stimmung und die kognitiven Fähigkeiten untersucht (Passie 2003, 2005).

Vereinzelt wurde Ketamin auch als Hilfsmittel in der Psychotherapie eingesetzt. Die wenigen (unkontrollierten) Studien zeigen jedoch keine überzeugenden Wirkungen. Eine Ausnahme bilden die Untersuchungen von Prof. Evgeny Krupitsky in St. Petersburg. In diesen methodisch gut gemachten Studien wurden während der 1990er Jahre Patienten mit Alkohol- und Heroin-Abhängigkeit mit einer mehrfachen Gabe von Ketamin im Kontext einer Psychotherapie behandelt. Bei vielen Fällen zeigte diese Behandlung erstaunliche Erfolge.

 

Behandlung von Depressionen mit Ketamin

Kurz nach der Jahrtausendwende fiel in einer Studie über orthopädische Operationen auf, dass einige Patienten nach einer Ketamin-Narkose eine Aufhellung der Stimmung zeigten. Da die pharmakologische Behandlung von Depressionen nach wie vor ungenügend ist, weil die sog. Antidepressiva gemäß neueren Studien nur wenig wirksam sind, war man zu dieser Zeit auf der Suche nach Medikamenten, welche Depressionen effektiver und schneller bessern konnten. Daher griff man den Zufallsbefund der Orthopäden auf und startete im Jahre 2000 eine Studie zur Gabe von Ketamin bei Menschen mit Depressionen an der Yale Universität (USA). Dabei zeigten vier der acht Patienten eine Reduzierung von Depressionssymptomen um 50%. Nebenwirkungen wie Dissoziation, leichte Halluzinationen, verändertes Körperempfinden sowie Denk- und Gedächtnisstörungen waren nach dem Abklingen der Wirkung innerhalb von 60 Minuten wieder verschwunden – und erschienen gering im Vergleich zum Leiden an der Depressivität. Etwa zur gleichen Zeit tauchte Ketamin häufiger in der Drogenszene auf und die amerikanische Regierung sah sich gehalten, Ketamin einer strengeren Kontrolle zu unterstellen. Dies schädigte den Ruf von Ketamin und erschwerte die weitere Forschung.

Im Jahr 2002 nahm eine Forschungsgruppe den Faden wieder auf. Dort wurde eine Gruppe von Patienten während einer ohnehin anstehenden chirurgischen Operation mit Ketamin narkotisiert, während die andere Gruppe ein gewöhnliches Narkosemittel erhielt. Patienten beider Gruppen litten neben den orthopädischen Problemen an Depressionen. Es stellte sich heraus, dass die mit Ketamin behandelten Patienten am nächsten Tag weniger Depressivität und Schmerzen empfanden.

Die nächste Studie kam 2006 aus den USA, diesmal aus dem Nationalen Institut für seelische Gesundheit in Maryland. Dort führten die Psychiater Dennis Chanel und Carlos Zarate eine randomisierte, placebo-kontrollierte und doppelblinde Studie an depressiven Patienten durch. Die meisten Patienten hatten schon einige erfolglose Behandlungen hinter sich. 12 der 18 mit Ketamin behandelten Patienten zeigten eine antidepressive Wirkung schon in den ersten Stunden nach der Verabreichung. Bei der einen Hälfte war die antidepressive Wirkung innerhalb von einigen Tagen wieder verschwunden, während sie bei der anderen Hälfte bis zu einer Woche anhielt. Klar wurde dadurch, dass man die Behandlung in mehrtägigen Abständen würde wiederholen müssen, um andauernde Wirkungen zu erzielen.

Die nächste Studie wurde 2009 in Mannheim durchgeführt. Die Forscher verabreichten Ketamin nicht per Injektion, sondern per os, also als Kapsel über den Mund. Außerdem wurden die Patienten zugleich mit einem gewöhnlichen Antidepressivum (Venlafaxin) behandelt. Die Autoren beschrieben die Resultate als sehr gut und konnten mit ihren Ergebnissen belegen, dass sich Ketamin bei depressiven Menschen oral anwenden und mit anderen Antidepressiva kombinieren lässt.

Seitdem folgten noch diverse Studien in den USA und anderen Ländern, die eine gute und schnelle antidepressive Wirkung von Ketamin beim überwiegenden Teil der Patienten bestätigten. Längere Verläufe weisen darauf hin, dass schwer depressive Patienten eine Resistenz gegen die antidepressive Wirkung von Ketamin entwickeln können. Dieses durchaus ernste Problem ist bisher noch ungelöst.

 

Mögliche Wirkmechanismen der Ketamin-Behandlung

Die Mechanismen, über die die antidepressive Wirkung von Ketamin vermittelt wird, liegen nach wie vor weitgehend im Dunkeln. Es wurden verschiedene Hypothesen entwickelt.

Die durch Ketamin verursachte Deaktivierung des N-Methyl-D-Aspartate (NMDA)-Rezeptors ist am besten beforscht. Diese Deaktivierung hat eine Aktivierung der Glutamat-Neurotransmission zur Folge, die als Schlüsselmechanismus für die Entstehung psychoseartiger Symptome und antidepressiver Wirkungen diskutiert wird (Abdallah et al. 2017). Wirkungen auf andere Neurotransmittersysteme dürften ebenfalls eine erhebliche Rolle spielen, werden aber derzeit weniger beachtet.

Außerdem soll Ketamin durch die aktivierte Glutamat-Neurotransmission die ‚Wiederherstellung’ einer ‚normalen‘ funktionellen Konnektivität im Gehirn begünstigen (Abdallah et al. 2018). Dafür sind die Belege allerdings eher schwach.

Ketamin hat auch anti-entzündliche und epigenetische Effekte. Es steigert die Ausschüttung von BDNF (einem Faktor für das Nervenwachstum), stimuliert den TrkB Rezeptor, aktiviert mTORC1 und stimuliert die lokale Proteinsynthese. Diese Kaskade von Prozessen führe zu einem schnellen Wachstum dendritischer Spines (Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen im Gehirn), die zeitlich mit den antidepressiven Wirkungen einhergehen soll.

Da eine kognitive-behaviorale Psychotherapie die Wirkungen von Ketamin zeitlich ausdehnen kann, könnte es Wege geben, die Effektivität der Ketamin-Therapie durch Psychotherapie zu steigern. 

Die antidepressiven Wirkungen der Ketamin-Metaboliten (S)-Norketamin und (2R,6R)-Hydroxynorketamin (HNK) müssen noch eingehender untersucht werden.

 

Sicherheit der Ketamin-Behandlung

Die Sicherheit der Behandlung erscheint recht gut, wenn man einmal von den recht starken Wirkungen unter dem direkten Einfluss der Infusion absieht. Diese sind aber schon etwa 30 Minuten nach dem Ende der Infusion (die selbst meist ca. 30 Minuten dauert) wieder verschwunden. Es ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass Ketamin seit langem in der Narkosemedizin verwendet wird – und zwar in viel höheren Dosen. Dauerhaft negative Wirkungen haben sich dabei, auch bei tage- oder wochenlanger Anwendung,  kaum einmal gezeigt. Allerdings sind viele Fragen, die sich bei einer Langzeit-Anwendung über Wochen und Monate ergeben, noch nicht untersucht, da diese in der Anästhesie nicht vorkommt. Vom täglichen Gebrauch durch Drogenuser ist bekannt, dass diese erhebliche Probleme im Bereich des Urogenitaltraktes entwickeln können. Auch die chronischen Auswirkungen auf das Gehirn wurden bisher nicht untersucht.

 

Aktuelle Entwicklungen (Stand 2020)

Die pharmazeutische Industrie hat sich in den letzten zehn Jahren bemüht, dem Ketamin ähnliche Stoffe zu synthetisieren, die zwar die antidepressive Wirkung haben, aber weniger Nebenwirkungen verursachen und kein Missbrauchspotenzial besitzen. Diese Versuche sind bisher fehlgeschlagen.

Nachdem die antidepressiven Wirkungen von Ketamin in der Öffentlichkeit und der Fachöffentlichkeit bekannt wurden, haben sich verschiedene Ärzte darauf spezialisiert, Behandlungen für depressive Patienten ‚auf dem freien Markt‘ anzubieten. Insbesondere in den USA ist daraus ein ‚Wildwuchs‘ entstanden, da verschiedenste Ärzte, also auch Urologen und andere psychiatrisch Unkundige, solche Behandlungen anbieten. Mittlerweile bemühen sich die amerikanischen Behörden um eine Eingrenzung dieses Gebrauchs.

Auch in Deutschland gibt es eine Reihe von Ärzten, aber auch einige Kliniken, die diese Behandlungen anbieten. In der Regel weigern sich die Krankenkassen, die Kosten dafür zu tragen, da diese Form der Depressionsbehandlung bisher nicht wirklich etabliert ist. Zudem handelt es sich um den Gebrauch des Medikaments außerhalb jener Zwecke, für die Ketamin zugelassen wurde (sog. off-label use).

Die Pharmakonzerne haben nicht geschlafen, sondern im letzten Jahr ein Nasenspray für die Depressionsbehandlung auf den Markt gebracht. Die Zulassung ist in den USA erfolgt und steht in Deutschland kurz bevor. Dabei fällt auf, dass es sich pharmakologisch um das gleiche Ketamin (als Narkosemittel) wie vor der Zulassung als Antidepressivum handelt, der Preis aber auf das 25-fache gestiegen ist. Die vereinfachte Anwendung als Nasenspray suggeriert, dass man es auch zu Hause einfach anwenden kann. Dies ist jedoch nicht der Fall, sondern vielmehr streng verboten, das Mittel außerhalb einer Arztpraxis anzuwenden, da die psychischen und kognitiven Nebenwirkungen so stark sein können, dass es zu psychischen Traumatisierungen, Unfällen und Ähnlichem kommen kann.