Bericht des WHO-Expertenausschusses zu Ketamin

Von Prof. Dr. Torsten Passie

 

Am 16.-20. Juni 2014 trat der „Expertenausschuss für Drogenabhängigkeit“ der WHO zu seiner 36. Sitzung in Genf zusammen, um über Ketamin zu beraten (WHO 2014). Ich habe hier wichtige Passagen des 50-seitigen Berichtes der WHO (mit Schwerpunkten auf Missbrauch, Verbreitung, Nebenwirkungen, Toleranzentwicklung und Abhängigkeit), zusammengefasst, um aufzuzeigen, wie WHO-Experten Ketamin beurteilen. Die internationalen Expertengremien haben oft einen guten Überblick und müssen sich mit breitem Konsens auf Beurteilungen und Einstufungen von Substanzen verständigen, so dass einseitige Beurteilungen eher unterbleiben. 

Es ist vorab zu erwähnen, dass die Abhängigkeit von Ketamin überwiegend auf die asiatischen Länder beschränkt ist, während sie in den westlichen Ländern eher eine Rarität darstellt. Deshalb haben sich einige asiatische Länder wiederholt bemüht, bei der WHO eine höhere Einstufung von Ketamin in der Verbotsgesetzgebung zu erreichen. Die WHO hat sich nach ausführlichen Beratungen diesem Votum jedoch nicht angeschlossen. Das Hauptargument für diese Entscheidung war, dass man ansonsten mit mehreren 10.000 Toten weltweit rechnen müsse, da in Ländern der sogenannten dritten Welt viele Patienten mit Ketamin narkotisiert würden, weil man es ohne Operationssaal und Anästhesie-Equipment anwenden kann. Die Patienten müssten dann unbehandelt bleiben, massive Schmerzen erleiden und eventuell sogar sterben. Da die Anzahl der potentiell auf diese Weise geschädigten Patienten erheblich höher liegen würde als jene der Menschen, die sich durch eine Ketamin-Abhängigkeit ins Unglück stürzen, kam die WHO den Verbotsanträgen nicht nach.

 

Psychische Wirkungen

Zunächst werden in dem Bericht die psychischen Wirkungen sogenannter „subanästhetischer Dosen“ angesprochen, also solcher Dosierungen, die im Freizeitgebrauch (und in der Depressionsbehandlung) üblich sind, aber in der klinischen Medizin bislang keine Rolle spielen, da sie für eine Narkose bei weitem nicht ausreichen.

Von Bowdle et al. (1998) wurden gesunden Versuchspersonen vier verschiedene subanästhetische Dosen Ketamin intravenös verabreicht. Die Versuchspersonen wurden gebeten, Erlebnisveränderungen in verschiedenen Bereichen zu bewerten. Zusammengefasst schilderten sie folgende Veränderungen:

  • Körper: Körper oder Körperteile schienen ihre Position oder Form zu ändern.
  • Umgebung: Die Umgebung schien Größe, Tiefe oder Form zu ändern.
  • Zeit: Der Zeitablauf wurde geändert.
  • Realität: Es gab Gefühle der Unwirklichkeit.
  • Gedanken: Es gab Schwierigkeiten, die Gedanken zu kontrollieren.
  • Stimmen: Es wurden unwirkliche Stimmen oder Geräusche gehört.
  • Bedeutung: Ereignisse, Objekte oder Personen hatten besondere Bedeutung.
  • Stimmung: Sie fühlten sich high.
  • Vigilanz: Sie fühlten sich schläfrig.

Die Resultate der Studie zeigten außerdem, dass bezüglich der psychischen Wirkungen eine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht. [24]

 

In einer offenen Studie untersuchten Hansen et al. (1988) die psychotropen Wirkungen von Ketamin bei subanästhetischen Dosen. Die Versuchspersonen berichteten über intensive innere Erfahrungen. Sie beschrieben folgende Phänomene:

  • ein Lichtgefühl im ganzen Körper
  • neue Erfahrungen in Bezug auf "Körperkonsistenz"
  • verzerrte Form oder unwirkliche Größe von Körperteilen
  • Gefühl, in einem schwerelosen Zustand zu schweben
  • strahlend bunte Visionen (z. B. sich bewegende geometrischen Muster)
  • Fehlen des Zeitgefühls
  • Einsichten in die Rätsel der Existenz oder des Selbst
  • Empfindungen des Verschmelzens mit jemandem oder der Umgebung
  • Erfahrung eines Verlassens des Körpers.

Die Probanden behielten einen Teil ihres nüchternen Ichs bei. Dieser Ich-Rest „bezeugte“ die Erlebnisse und konnte sich teils an das Erlebte erinnern. [25]

 

Toleranz

Nach Jansen (2000) entwickelt sich schnell eine Toleranz gegenüber den Wirkungen von Ketamin. Bei zeitnah wiederholter Anwendung nehme die Fähigkeit ab, sich an die Erfahrung zu erinnern, was viele zum Aufhören veranlasse. Andere machten dagegen weiter. Befrage man diese, so berichten sie über eine kokainähnliche Stimulation, eine opioidartige Beruhigung, cannabis-ähnliche Bilder und alkoholähnliche Erscheinungen. Es könnten zudem Ängste und Depressionen gelindert werden (Jansen, 2000). [31/32]

 

Nebenwirkungen

Das vorherrschende Symptom bei Usern, die eine Notaufnahme aufsuchen, ist ein beschleunigter Puls (Tachykardie). Seltene Nebenwirkungen sind: Muskelschmerzen, eine Neuropathie vom Typ Guillain-Barré, Leberkrisen und eine Rhabdomyolyse. 90% der Notfallpatoenten konnten nach 5 Stunden wieder entlassen werden (Weiner et al. 2000).

Seit einigen Jahren werden Veränderungen der unteren Harnwege bei chronischem Gebrauch von Ketamin beschrieben (Übersicht in Li et al. 2013). In einer Umfrage von Winstock et al (2012) gaben ein Viertel derjenigen, die häufiger Ketamin gebraucht hatten an, schon einmal Beschwerden wie Blasenentzündungen und Blasenfunktionsstörungen im Zusammenhang mit dem häufigeren Gebrauch von Ketamin gehabt zu haben. In der Regele kommt es dabei zu einer erheblichen Verdickung der Blasenwände. In Einzelfällen können auch Nierenschäden auftreten (Jalil & Gupta 2012). Die Harnwegsbeschwerden standen in Beziehung zur Dosis und Einnahmefrequenz. Nach Beendigung des Konsums verschwanden die Symptome.

In Einzelfällen wurden Leberentzündungen und Ausdehnungen der Gallenblase beobachtet (Gutkin et al. 2012).

 

Abhängigkeit

Während der letzten 20 Jahre wurden nur sehr wenige Fälle (< 15) von Ketaminabhängigkeit beschrieben (z.B. Blachut et al. 2009; Bobo & Miller 2002). Die Hälfte der Betroffenen war medizinisches Personal (leichter Zugang zu Ketamin), die andere Hälfte waren Polydrug-User. Behörden in Asien berichten allerdings von einer Vielzahl Ketamin-Süchtiger. [28]

 

Entzugssyndrom

Es gibt keine Hinweise darauf, dass Ketamin beim Menschen ein Entzugssyndrom verursacht. Das Aufhören kann als schwierig empfunden werden, aber es wird kein Entzugssyndrom erlebt. Jansen (2000) gibt an, dass eine euphorische Stimmung nach einem ‚Ketamin-Konsumzyklus‘ mit täglich mehrfachem Gebrauch vorkomme, während sich ein Switch in eine Depression nur selten finde. [28/29]

 

Verbreitung

Informationen über die Verbreitung von Ketamin werden von den Gesundheitsbehörden nicht routinemäßig gesammelt. Nach den wenigen vorliegenden Daten scheint Ketaminmissbrauch in westlichen Industrienationen selten zu sein. In Asien hat der Missbrauch eine größere Bedeutung.

Obwohl eine Reihe von Ländern Ketamin den Betäubungsmittelgesetzen unterstellt hat, ging der rekreationale Gebrauch nicht zurück.

 

Illegale Herstellung und Verkehr

In der Vergangenheit wurde durch die sehr schwierige Synthese von Ketamin vor allem  die ‚Abzweigung‘ aus legalen Quellen beobachtet.

Ketamin wird illegal in China hergestellt; daneben ist Indien eine wichtige Quelle. Von 2003-2012 wurden eine Reihe von Ketaminlabors in Indonesien und den Philippinen beschlagnahmt. Dass illegales Ketamin fast nur aus dem asiatischen Raum stammt, ist keine Überraschung, da der Missbrauch dort verbreitet ist. [33/34]