Als Nicht-Anthropologe muss ich mich auf Publikationen beziehen, die viel heterogene, unüberprüfbare und unüberprüfte Literatur zusammentragen. Die mir zugängliche Originalliteratur erlaubt keine gültigen psychologisch-psychiatrischen Aussagen zur Person des Schamanen, besonders nicht über seine von vielen hypotasierte »Krankheit«.1 Die Person geht meist völlig in den sozialen Stereotypen von diesem wichtigen Funktionsträger unter - dies in doppeltem Sinne: einerseits verdeckt das Stereotyp die Person, andererseits mag sich das Verhalten des Schamanen auch weitgehend nach den bestimmenden Erwartungen seiner Sozietät richten (s. Handelmann 1968). Diese Einschränkung ist für die folgenden Ausführungen gegenwärtig zu halten, auch wenn sie nicht wiederholt angeführt wird.
Des Schamanen diagnostische und therapeutische Tätigkeit ist nur eine von vielen Funktionen, die von diesem Mittler der kosmischen Ordnung für seine Gesellschaft geleistet wird. Dass der Schamane Einblick in den Kosmos hat, also über die alltägliche Realität hinaus sieht, und dass er dort wie hier wirksam werden kann, verdankt er seiner Fähigkeit, selbsttätig in außernormale Bewusstseinszustände einzutreten, damit aus dem alltäglich-gewöhnlichen Bereich der Realität auszutreten und in andere, kosmisch-universale Seinsschichten einzudringen, ja mehr noch: dort aktiv tätig zu werden für die Wiederherstellung und das Bewahren der Harmonie. Damit ist des Schamanen Begabung für paranormale Bewusstseinsweisen angesprochen. Der Schamane ist der Spezialist der Trance (Eliade 1975), der Meister der Ekstase (Eliade 1975).
Diagnose und Heilung beim Schamanisieren beruhen auf einer spiritualistisch-animistischen Krankheitstheorie. Es gibt im wesentlichen zwei Krankheitsursachen: Verlust der Seele oder das Eindringen pathogener Geister, materialisiert als entfernbare Gegenstände (Eliade 1975; Nioradze 1925). Zum Schamanisieren versetzt sich der Heiler in Ekstase und erfährt dann die Krankheitsursachen von seinen Hilfsgeistern. Wenn die Seele verlorengegangen ist oder sich verirrt hat, so muss er sie suchen und zurückbringen, oft in weiten gefahrvollen Reisen in die Unterwelt, zu den Herren der Krankheit (Eliade 1975). Häufig kann der Medizinmann die Krankheit aber auch in einer materialisierten Form lokalisieren und dann extrahieren, zum Beispiel durch Aussaugen, durch Herausreißen in chirurgischer Magie, Entfernen aus dem Leibesinneren, durch die Haut, aus den Augen, der Stirn des Kranken. Dann kann er »die Krankheit« auch »vorweisen«: Als Stein, Haar, Feder, Blut, Fleisch, Tierdarm, Wurm, seinen eigenen Speichel.
Die Verleihung der Kraft an den Schamanen erfolgt in der Mehrzahl der Fälle durch spontane Berufung (Ruf, Auserwählung durch die Geister, eigenes inneres Drängen), aber das Amt kann auch erblich sein. Es gibt männliche und weibliche Schamanen. Weibliche Schamanen gelten dabei zum Teil als weniger einflussreich auf die Geister (z.B. bei den Burjäten, vgl. Nioradze 1925). Sie können einen Teil ihrer Fähigkeit durch Geburten verlieren.
Der Schamane als außerhalb der üblichen Normen stehender Mensch kann aber auch die Geschlechtspolarität überschreiten (s. Nioradze 1925; Findeisen 1957; Eliade 1975). Bei manchen nordostasiatischen Stämmen waren die mächtigsten Schamanen die mit umgewandeltem Geschlecht (bei den Tschuktschen und den Eskimos, vgl. Nioradze 1925). Männliche Schamanen können sich manchmal wie Frauen verhalten und kleiden (Transvestismus), können auch junge Männer heiraten und in der Ehe die dienende Frauenrolle übernehmen. Frauen können erst in der Menopause eine Geschlechtstransformation durchmachen und dann auch Mädchen heiraten.
Die Unterweisung des Schamanen erfolgt in seinen Ekstasen (in seinen Trancezuständen), in seinen Träumen und in einer zum Teil Jahre währenden Schulung durch ältere Schamanen in Kosmologie, Mythologie, Religion, spiritueller Theorie, Genealogie der Geister. Dabei lernen die Schamanen die Techniken der Ekstase und des manipulativen Umganges mit den Geistern.
Schamanen sind als privilegierte Menschen mit besonderer Begabung (Eliade 1975; Lommel 1965) oft schon früh auffällige, besondere Persönlichkeiten. Sie sind oft schon lange vor der Initiation anders als die »normalen« Menschen ihrer Gesellschaft, sie gehen nicht den gewöhnlich alltäglichen Weg. Sie sind oft isoliert, sondern sich für Wochen und Monate ab, haben manchmal schon früh (zum Teil in Zusammenhang mit Fieberkrankheiten) visionäre Erlebnisse. Manche haben eine besondere Beziehung zu Träumen, haben auch prospektive Träume und vielfach eine Begabung für Hellsehen. Man kann den künftigen Schamanen als paranormal begabten Menschen bezeichnen, der mit dieser Begabung natürlich außerhalb der Norm steht. Aber man darf Schamanen nicht in falscher Gleichsetzung von abnorm und krank als pathologische Persönlichkeiten schlechthin kennzeichnen. Dass solche auch vorkommen können, wird damit nicht bestritten. Auch nicht, dass es Missbrauch, Scharlatanerie und Degeneration im Bereich des Schamanentums gibt.
Nach der Initiation sind Schamanen oft körperlich und psychisch besonders beanspruchbare Menschen von einer »übernormalen Konstitution« (s. Eliade 1975; Lommel 1965). Ernste Psychopathologie schließt die Befähigung zum Schamanen aus (Kleinman und Sung 1979, für die Schamanen von Taiwan). Der Schamane muss zum Beispiel für die Jakuten (s. Zitat bei Eliade 1975) ein ernsthafter und überzeugender, taktvoller Mensch sein. Er dürfe sich nicht anmaßend, stolz und aufbrausend geben. Man müsse in ihm eine innere Kraft spüren, die nicht erschrecke, die aber gleichwohl sich ihrer Macht bewusst sei. In mancher Hinsicht ist - muss vielleicht - der Schamane nicht nur gesund, sondern über den Durchschnitt hinaus rage und überlegen sein (Kai Donner, zit. bei Eliade 1975; Hahn 1978; s. auch Handelman 1968).
Der Beginn der Berufung zum Schamanen liegt meist in dem Alter der späteren Pubertät bis Adoleszen. Manchmal gibt es aber schon Geburtszeichen (wie zum Beispiel die Eihaut über dem Kopf des Neugeborenen), die auf eine spätere besondere Berufung hinweisen.
Es gibt bestimmte Prodromalerscheinungen, die die Berufung zum Schamanen ankündigen: Diese Menschen ziehen sich in die Einsamkeit zurück, oft monatelang, sie meditieren viel, sie erscheinen den anderen Menschen als geistesabwesend oder wie in Trance, manchmal auch wie ohnmächtig oder lethargisch. Sie haben vielfach prophetische Träume, begegnen im Tages-Wach-Bewusstsein bedeutungsvollen Tieren; auch in außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen können sie Erscheinungen von besonderen Tieren (z. B. Totemtieren) oder von Ahnengeistern haben. Manchen widerfahren visionäre Begegnungen und Bannungserlebnisse durch Perceptionen, wie sie gewöhnliche Menschen nicht in solcher Bildkraft haben (Halluzinationen).
Die eigentliche Initiation des Schamanen, die Stufen seiner Einweihung, bestehe aus drei Elementen: Der sogenannten Krankheit des Schamanen, seinen Träumen und seinen Ekstasen (s. Eliade 1975; Findeisen 1957). In den noch nicht degenerierten Formen des Schamanentums führt die qualvolle »Krankheit« zum Untergang durch Zerstückelung. Der Schamane wird in allen Teilen, selbst dem Skelett, zerrissen, auseinandergenommen, zerfetzt, zermalmt - und er muss alles dies, was an ihr geschieht, auch noch selbst wach beobachten. Äußerlich ist er um diese Zeit oft mehrere Tage oder Wochen wie scheintot, hat Anfalle, Ekstasen, Visionen. Er erlebt dann unter seinen eigenen konvulsivischen Anstrengungen die Resynthese zu einem neuen Wesen. Neue Augen werden ihm eingesetzt (Eliade 1975). Der Initiant muss die außerhalb der gewöhnlichen Realität liegenden Sphären kennenlernen: Er erlebt den Abstieg in die Unterwelt, wo er die Männer der großen Krankheit und de Herren des Wahnsinns trifft und wo die Seelen verstorbener Schamanen ihn auseinandernehmen, mit neuen Organen ausstatten, zusammensetzen, schmieden, d. h. härten (Eliade 1975). Dann folgt die Auffahrt in den Himmel, die kosmische Reise und schließlich die Rückkehr zur Erde, um seine Berufung anzutreten. In Träume und Visionen werden ihm Einsichten in seine und seiner Gesellschaft animistischen Welt gewährt. In Ekstasen tritt er aus dem Tages-Wach-Bewusstsein aus. Krankheit Traum und Ekstase machen ihn zu einem Eingeweihten (Mystes).
Die Initiation zum Schamanen als ursprünglicher Heilsgestalt mit der destruktiven Krise, der Resynthese, der kosmischen Reise und der Rückkehr zur Erde folgt einem generellen weltweiten Initiationsschema von Leiden, Tod und Auferstehung wie es auch in der christlichen Mythologie nachweisbar ist.
Im Zentrum der schamanistischen Rituale steht die Ekstase, der Trancezustand. Es ist dies ein partieller oder vorübergehend auch totaler Austritt aus dem Tages-Wach-Bewusstsein und der menschengemeinsamen Realität. Im psychiatrisch-psychologischen Sinne ist es ein dissoziierter Zustand, weil wenigstens partiell auch noch Realitätsbewusstsein für die mitmenschlich gemeinsame Realität der Umgebung vorhanden ist, weil eine Beziehung zu den Umgebungspersonen möglich ist. Gleichzeitig ist der Schamane offen für die Geisterwelt, kann Geister herbeirufen, sie um Hilfe ersuchen, sie aber auch beschwören und bannen. Er ist offen für »außerweltliche« Wahrnehmungen, submarginale und transmarginale Perceptionen (Findeisen 1957). In einem Teil der Ekstasezeit ist eine volle oder partielle Selbstkontrolle und Eigenaktivität noch möglich, auf dem Höhepunkt der Ekstase kann aber der Schamane in einen kataleptisch starren Zustand verfallen, aus dem er ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus kommt.
Das Besondere der Ekstase des Schamanen ist, dass diese Zustände selbst induziert und selbst gesteuert sind. Darum nennt Eliade den Schamanen einen Meister der Ekstase: Er meistert den Übergang in andere Bewusstseinsbereiche. Er erzeugt die Ekstase mit verschiedenen Techniken, die grob in pharmakologische und nicht pharmakologische Methoden eingeteilt werden können. Sehr häufig werden Halluzinogene verwendet (von Eliade (1975) wertend ein »vulgärer Ersatz« für die reine Trance genannt). Das Wissen der Menschheit um halluzinogene Substanzen in der Pflanzenwelt ihres Lebensraumes und um verschiedene Applikationstechniken (oral, parenteral, nasal, inhalatorisch etc.) ist erstaunlich differenziert. Manche Schamanen erreichen die Ekstase durch Vorbereitung in Isolation, erschöpfende körperliche Anstrengung wie Tanzen oder Rennen, durch Hitze, durch Dursten, durch Fasten, durch Musik (vor allem die rhythmische Musik der Schamanentrommel). In manchen Gegenden (z. B. Süd- und Südostasien, Nordamerika) gibt es Torturen zur Erzeugung von Ekstasen. Bei den tibetischen Orakelpriestern mag vielleicht auch eine Abschnürung der Halsvenen mit einem Stau des venösen Blutes im Kopf mit eine Rolle spielen (Schüttler 1971). Häufig kommt auch eine Räucherung (Fumigation), d.h. Inhalation von Rauch, vielleicht auch mit Halluzinogenen zusammen, zur Anwendung. Andernorts wird eine Blickfixation auf einen Stein, auf die Sonne, auf das Feuer eingesetzt. Vielfältig sind die Atemtechniken, wobei für die Ekstase oft eine Hyperventilation (in Kombination mit Fumigation) sowie dazwischen das Einschalten langer apnoischer Pausen eingesetzt werden.
Schließlich ist für die Erzeugung der Ekstase auch zu bedenken, dass die gesamthafte Lebensführung und funktionelle Einordnung des Schamanen in seine Gesellschaft auf die wiederholte selbstinduzierte Ekstase hin orientiert ist und dass diese sowohl in des Schamanen eigener Erwartung wie in der seiner Sozialgruppe zu seinen Aufgaben gehört. Ein einfaches schamanistisches Heilungsritual konnte der Autor in Ceylon beobachten (s. Scharfetter 1977).
In einem einfachen Ritual geht die »Austreibung« des Dämonen so vor sich: Auf dem Boden wird mit Reiskörnern ein Yantra, ein magisches Quadrat mit Diagonalen, ausgelegt. An den vier Eckpunkten und in dem Schnittpunkt der Diagonalen wird je eine Kokosnuß und Blumen, Räucherstäbchen, Weihrauch und ein Öllämpchen aufgelegt. In einer Räucherpfanne daneben wird Holzkohle glühend gehalten und immer wieder mit Weihrauch bestreut. Der Therapeut spricht und singt mit mantra-artigen Wiederholungen, mit weitausholenden Armgebärden und Tanzschritten vor dem Yantra und vor dem daneben sitzenden oder liegenden Kranken. Dann setzt er sich rezitierend vor das Yantra, entnimmt seiner Hand durch Nadelstich Blut und gibt je einen Tropfen davon auf die Pole eines angewärmten Hühnereis. Dieses wird dann auch eingeräuchert. Nach längerem Singen legt sich der Therapeut auf einer Matte nieder. Unter die Matte werden zwei Querstangen geschoben. Dann wird er von Gehilfen aufgehoben und einmal um seine Achse gedreht. Dann liegt der Therapeut ausgestreckt am Boden, hält das Ei zwischen erster und zweiter Zehe des rechten Fußes fest. Nun versetzt er sich willentlich in einen Ausnahmezustand: er keucht, überatmet, macht Atempausen, knirscht mit den Zähnen, schäumt mit dem Mund, ballt die Fäuste, stöhnt, inhaliert wiederholt dichte Weihrauchdämpfe (ohne dabei zu husten). Seine Augen sind fest geschlossen. Der Kopf geht zeitweise ruckartig hin und her, fast einem Beginn eines epileptischen Anfalles ähnlich. Dann drückt es ihm den Kopf nach hinten, und der ganze Körper wird steif und starr. Die Gliedmaßen können nun weder vom Therapeuten selbst noch von den Umgebungspersonen mehr gebogen werden, auch nicht mit großer Kraftanstrengung. Die Pupillen sind dabei mittelweit und reagieren normal auf Licht. Die Sehnenreflexe sind nicht auslösbar, der Fußsohlenreflex mit minimaler Zehenbeugung vorhanden. Die Bauchdecken sind weich. In dieser Starre verharrt der Therapeut etwa eine halbe Stunde. Länger als 45 min darin zu verbleiben ist für ihn gefährlich. Er kommt nicht mehr von selbst aus dem Starrezustand heraus. Nach der angegebenen Zeit träufelt ihm sein Gehilfe ein mit scharf riechenden Essenzen versetztes Gebräu ins Gesicht und auf die Zunge. Die Atmung wird regelmäßiger. Arme und Beine sind weiterhin völlig starr. Und nun machen sich vier starke Männer an die Arbeit, und ihnen gelingt es mit vieler Mühe und nach langer Anstrengung, zunächst die Arme, dann die Beine des Therapeuten in Ellbogen und Knie zu beugen. Damit ist der Bann gebrochen, der Therapeut ist wieder Herr über seine eigene Motorik, setzt sich sichtlich erschöpft auf. Er trinkt den Rest der Essenz und nimmt nun das bisher mit dem rechten Fuß gehaltene Ei in die Hand. In diesem Ei ist nun durch die Kraft des Therapeuten der Dämon. In dem psychischen Ausnahmezustand, durch die Beschwörung des Singens und Räucherns vermochte der Therapeut den Dämon aus dem Kranken herauszureißen und in die mittlere (in dem Diagonalenschnittpunkt gelegene) Kokosnuss zu verbannen, von dort durch Berührung, durch Räucherung und weitere Beschwörungsformeln in das Ei. Das Ei wird nun vom Therapeuten an einer Dreiweggabelung über den Kopf nach hinten geworfen und zerbricht. Der Dämon kann entweichen.
Dies ist ein einfaches Ritual, das mit allen Vorbereitungen etwa 3-5 h in Anspruch nimmt. Bei schwer zu vertreibenden Dämonen aber kann sich ein solches Ritual über mehrere Tage hinziehen. Außer dem Kranken nehmen die Familie, die Dorfbewohner, die Gehilfen des Therapeuten teil. Man kann sich vorstellen, dass dies die suggestive Eindrücklichkeit solcher Maßnahmen noch verstärkt.