Eigene Ketaminstudien an der Medizinischen Hochschule Hannover

Von Prof. Dr. Torsten Passie
 

 

In meiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für klinische Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover habe ich als eines meiner ersten Forschungsprojekte Studien mit Ketamin durchgeführt. Diese hatten den Zweck, die psychopathologischen Phänomene, Wirkungen auf den Bewusstseinszustand und verschiedene kognitive Funktionen, wie sie im niedrigen Dosisbereich, sogenannten „sub-anästhetischen“ Dosierungen auftreten, zu untersuchen.

 

Studie 1: Ketamin – Ein Halluzinogen 2ter Ordnung

Ketamin unterscheidet sich von den klassischen Halluzinogenen wie LSD, Psilocybin oder Meskalin. Während klassische Halluzinogene eine starke Bewusstseinsveränderung, visuelle Erscheinungen und eine emotionale Aktivierung hervorrufen, haben die Versuchspersonen ein klares Bewusstsein und können sich danach gut an das Erlebte erinnern. Dies ist beim Ketamin nicht so. Ketamin, so zeigen es auch die Ergebnisse meiner Versuche, trübt das Bewusstsein und verursacht massive Gedächtnisstörungen. Zudem sind die kognitiven Funktionen stark beeinträchtigt.

Hanscarl Leuner hat als erster eine Einteilung der Halluzinogene in solche 1. Ordnung und 2. Ordnung vorgeschlagen. Für die Definition der Halluzinogene 1. Ordnung ist das Wirkungsprofil der klassischen Halluzinogene wie LSD, Psilocybin oder Meskalin maßgebend. Während es sich bei den Halluzinogen 2. Ordnung um Substanzen handelt, welche das Bewusstsein trüben, das Gefühlserleben vermindern, die kognitiven Funktionen stärker verwirren und Gedächtnisstörungen verursachen.

Die psychometrischen Ergebnisse meiner Studien zeigen, dass Ketamin den Halluzinogenen 2. Ordnung zuzuordnen ist. Wir konnten eine starke Trübung des Bewusstseins, eine verminderte Wachheit, eine nicht unerhebliche Störung der kognitiven Funktionen und Gedächtnisstörungen nachweisen. Für die Details sei auf die auf meiner Webseite befindlichen PDFs verwiesen. Hier soll zur Illustration ein Diagramm zu den Veränderungen des psychischen Erlebens ausreichen (Diagramm 1). Dieses zeigt, dass die Messskala „Vigilanz-Reduktion“ bei Ketamin ungewöhnlich hohe Werte anzeigt, wie sie von den klassischen Halluzinogenen unbekannt sind.

Außerdem wurden die Versuchspersonen vom Versuchsleiter auf nach außen hin erkennbaren psychopathologischen Symptomen bzw. Verhaltensänderungen sondiert. Auch für den äußeren Beobachter zeigten sich zum Teil erhebliche Veränderungen des Erlebens und Verhaltens. Allerdings fiel bei der Auswertung auf, dass die von den Versuchspersonen erlebten subjektiven Erlebnisveränderungen viel stärker waren als sie nach außen hin in Erscheinung treten, d.h. von einem äußeren Beobachter beobachtbar sind. Man könnte - vereinfachend - von einer ‚Abkopplung‘ des inneren Erlebens vom äußeren Verhalten sprechen.

Eine Besonderheit unserer Studie lag darin, dass wir zwei verschiedene Dosierungen mittels eines Überkreuzversuchs (cross over) gegen Placebo an der gleichen Gruppe von Versuchspersonen untersucht haben. D.h. alle Versuchspersonen bekommen einmal die niedrige Dosis, einmal die höhere Dosis und einmal den Placebo; dies in zufällig unterschiedlicher Reihenfolge.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Bewusstseinsveränderungen, das psychische Erleben und die kognitiven Funktionen sich dosisabhängig verändern. Mit anderen Worten: je höher die Dosis, desto stärker die Effekte - und zwar in linearer Weise, d.h. verdoppelt man die Dosis kommt es zu doppelt so starken Effekten (in psychometrischen bzw. kognitiven Messungen). Bis heute gibt es keine andere Studie, die verschiedene Dosen im Vergleich getestet hat.

 

Studie 2: Ist S-Ketamin besser verträglich?

Nachdem das Patent für Ketamin um das Jahr 2000 auslief, entschied sich die Herstellerfirma, die beiden im gewöhnlich verwendeten Ketamin gemischten linksdrehenden (S-Ketamin) und rechtsdrehenden Molekülvarianten (R-Ketamin) voneinander zu trennen. Das Gemisch beider Varianten nennt man auch Razemat. Das nun neu aus dem Razemat gewonnene S-Ketamin, war in Bezug auf die gewünschten Anästhesie-Wirkungen erheblich stärker als das R-Ketamin. Das war allerdings nicht neu, sondern aus der Grundlagenforschung schon seit Jahrzehnten bekannt. Die Herstellerfirma nutzte eine „Patentlücke“ und konnte ein allein aus dem S-Ketamin bestehendes Medikament (Esketamin®) patentieren und - zu einem deutlich höheren - Preis auf den Markt bringen. S-Ketamin wurde damit beworben, dass es weniger belastende Nebenwirkungen verursachen soll.

Die Beobachtungen und erste einfache Untersuchungen durch Narkoseärzte schienen darauf hinzuweisen, dass bei alleiniger Verwendung der S-Variante des Ketamin-Moleküls die Nebenwirkungen geringer sind, so dass die Patienten weniger belastet waren. Dies spielt insbesondere beim Aufwachen aus der Narkose eine Rolle, da nicht wenige Patienten beim Aufwachen mit Unruhe, Ängsten und Albträumen reagieren.

Besonderer Bedeutung erlangten unsere Versuche, die wir mit subanästhetischen Dosierungen durchführten, weil sich seit etwa 2005 die Behandlung von Depressionen mit Ketamin verbreitete. In der konventionellen Anästhesie wird bei einer Narkose mit Ketamin gleichzeitig ein starker Tranquilizer (z.B. Valium, Diazepam) gegeben, um die psychischen Nebenwirkungen zu vermeiden. Bei der Depressionsbehandlung werden dagegen immer subanästhetische Dosierungen ohne Tranquilizer gegeben, so dass unsere Untersuchung hierfür größere Relevanz besitzt.

Aus Vorversuchen war unsere Arbeitsgruppe zu dem Schluss gekommen, dass S-Ketamin bei weitem nicht so gutartig war bzw. so viel weniger Nebenwirkungen als Razemat hatte, wie es von der Herstellerfirma dargestellt wurde. Wir hatten viel mehr den Eindruck, dass der dadurch erzeugte Zustand zwar kontrollierbarer, aber subjektiv deutlich unangenehmer war. Zu diesem Zeitpunkt fand ich heraus, dass ein führender Forscher im Bereich Ketamin, Prof. Hans-Anton Adams bei uns an der Medizinischen Hochschule Hannover Professor für Anästhesie war. Ich nahm Kontakt mit ihm auf und konnte ihn dafür gewinnen, ein Projekt zur Erforschung der Unterschiede zwischen S-Ketamin und dem ‚alten‘ Gemisch, also Ketamin-Razemat, zu organisieren. Damals war es noch so, dass man die Herstellerfirma schlicht anrief und eine entsprechende Studie vorschlug und ggf. Geld für eine solche Studie bekam. Vertraglich verpflichten sich die geldgebenden Firmen, dass eine Publikation der Ergebnisse unabhängig vom Geldgeber (‚Sponsor‘) stattfindet, um die wissenschaftliche Unabhängigkeit zu gewährleisten.

Unsere Ergebnisse zeigten, dass das Ketamin-Razemat von den psychischen Wirkungen her etwas günstiger verträglich war als S-Ketamin (s. Diagramm 2). Die gemessenen kognitiven Wirkungen waren bei den beiden Substanzen ungefähr gleich. Das bedeutet, dass S-Ketamin eigentlich ein ungünstigeres Nebenwirkungsprofil besitzt, da der Patient ja nur die Hälfte der Substanz, nämlich nur die S-Variante des Moleküls, gespritzt bekommt - und die Nebenwirkungen trotzdem stärker sind.

Als wir dann die Studie abgeschlossen hatten und die Ergebnisse in einer Veröffentlichung zusammengefasst waren, sandten wir diese an eine große Fachzeitschrift für Anästhesie. Wir erhielten nach einer Weile wie gewöhnlich die Veröffentlichung mit Kommentaren der eingeschalteten Gutachter zurück. Diese erklärten, dass unsere Studie zwar sehr gut gemacht sei und auch seriöse Ergebnisse geliefert hätte, aber kein ‚wissenschaftlicher Fortschritt‘ zu erkennen sei. Das machte uns stutzig, da wir die Annahme hatten, dass auch das Ergebnis, dass eine alte Substanz genauso gut bzw. etwas besser ist als eine neue Substanz, ein wissenschaftlicher Fortschritt wäre. Doch das sahen die Herren offenbar anders. Bei einer zweiten Einreichung erlebten wir dasselbe. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt - oder gar daran denkt, dass die Herstellerfirma eine solche Veröffentlichung vielleicht durch von ihr als Berater bezahlte Wissenschaftler, die sich als Gutachter oder Herausgeber verdingen, beeinflusst haben könnte. Bis heute sind die Ergebnisse nicht publiziert, aber wir werden einen neuen Anlauf zur Veröffentlichung machen.